Abschied nach 28 Jahren

Sharon Fehr gibt Vorsitz der Jüdischen Gemeinde ab

Münster. 28 Jahre stand Sharon Fehr an der Spitze der Jüdischen Gemeinde in Münster. Nun zog er sich zurück, am Sonntag (19. Juni) wurde ein neuer Gemeindevorsteher gewählt. Mit dem 73-jährigen gebürtigen Augsburger, der neben der deutschen die israelische Staatsbürgerschaft besitzt und kürzlich mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, sprach der Redakteur der Westfälischen Nachrichten Martin Kalitschke.

Herr Fehr, 1994 haben Sie vermutlich nicht damit gerechnet, dass Sie die Gemeinde bis 2022 leiten

werden.

Fehr: Das ist in der Tat eine ungewöhnlich lange Zeit. Nachdem ich 1981 nach Israel ausgewandert war, kehrte ich 1990 nach Deutschland zurück – eigentlich wollte ich nur ein paar persönliche Dinge erledigen. Dann machte mich ein Bekannter darauf aufmerksam, dass ich hier doch ein Jahr als Sozialarbeiter Geld verdienen könnte – ich bin Diplom-Sozialpädagoge und Diplom-Heilpädagoge.

Meine Bewerbung war erfolgreich, ich konnte zwischen mehreren Einsatzorten auswählen und entschied mich für Münster – wegen seiner Synagoge.

Aus einem Jahr wurde ein ganzes Berufsleben.

Fehr: Genau. Ich wollte eigentlich wieder nach Israel zurück, doch dann blieb ich in Deutschland hängen. Die Arbeit machte mir Spaß. 1994 bat man mich in der Gemeinde, für den Vorstand zu kandidieren. So wurde ich geschäftsführender erster Vorsitzender – und danach immer wiedergewählt.

Weil Sie sich immer wieder zur Wahl stellten.

Fehr: Vor vier Jahren hatte ich schließlich das Gefühl, dass der Zeitpunkt gekommen sei, die Gemeindeführung in andere Hände zu übergeben. Es gab genügend andere Leute, die das Potenzial hatten, die Gemeinde in eine gesicherte jüdische Zukunft zu führen. Doch dann lief die Wahl wieder auf mich hinaus. Nun ist allerdings wirklich Schluss. Ich bin überzeugt, dass es andere, Jüngere genauso gut, wenn nicht sogar besser als ich können. Der Friedhof ist voll mit Menschen, die sich für unersetzbar hielten – doch die Welt drehte sich auch ohne sie weiter.

Wie hat sich die Gemeinde in den letzten 28 Jahren verändert?

Fehr: Sie hat sich sehr verändert. Als ich den Vorsitz übernahm, kamen von heute auf morgen viele neue Mitglieder in unsere Gemeinde, jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus der Ukraine. Das stellte uns vor völlig neue Herausforderungen,

auf die wir nicht vorbereitet waren. Die Jüdische Gemeinde wurde zu einer Dienstleistungsgemeinde. Wir vermittelten Sprachunterricht, halfen bei Behördengängen und beim Dolmetschen, wurden auch zu Bittstellern für finanzielle Unterstützung.

Auf der anderen Seite sicherte die Zuwanderung den Bestand Ihrer Gemeinde:

Fehr: Das ist richtig. Ende der 1980er-Jahre drohten wir erneut in eine zahlenmäßige Bedeutungslosigkeit abzugleiten. Dann kamen innerhalb kürzester Zeit 600 neue Mitglieder hinzu. Wegen des Antisemitismus in der Sowjetunion waren sie allerdings jahrzehntelang von ihren jüdischen Wurzeln abgeschnitten. Wir waren herausgefordert, ihnen Hebräisch, ja, auch den jüdischen Glauben zu vermitteln.

Ist das gelungen?

Fehr: Ja! Die Gemeinde wurde zu einer lebendigen Einheit. Heute singen und beten die Mitglieder, die damals zu uns kamen, auf Hebräisch, als hätten sie nie etwas anderes gemacht, kennen sich in der jüdischen Liturgie aus. Ohne die Zuwanderung von damals wäre die Gemeinde vermutlich heute ein Museum.

Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus?

Fehr: Wir müssen die Jugendarbeit deutlich intensivieren. Unsere Freizeitangebote konkurrieren mit nichtjüdischen Angeboten außerhalb unserer Gemeinde, die oft deutlich verlockender scheinen.

Heute wächst die Gemeinde nicht mehr?

Fehr: Kaum. Wir nehmen nur noch vereinzelt Mitglieder auf. Aber immerhin ist die Altersstruktur, anders als vor 28 Jahren, gesund.

Heute gibt es Großeltern, Eltern und Kinder bei uns. Das war in den 1980er-Jahren anders. Die Großeltern waren in Auschwitz umgekommen.

Zugenommen hat seit Ihrem Amtsantritt der Antisemitismus – von rechts, von links, aus dem islamischen Milieu. Wie gehen Sie damit um?

Fehr: Da gab es in der Tat eine Zäsur. Damals haben wir unseren neuen Mitgliedern gesagt: Seid stolz, dass ihr jüdisch seid. Ihr müsst euch nicht mehr verstecken.

Diese Einstellung ist einer wachsenden Verunsicherung gewichen. Auch in Münster gibt es Antisemitismus. Dazu dürfen und wollen wir als Gemeinde nicht schweigen.

Wie reagieren Ihre Gemeindemitglieder darauf?

Fehr: Viele sind vorsichtiger geworden – so wie ich auch. Wenn ich mit der Kippa durch die Ludgeristraße gehe, schaue ich mich heute öfter um. Ich trage sie aber weiterhin, denn ich möchte mich nicht einschüchtern lassen. Ich empfinde es als unerträglich, dass 77 Jahre nach der Shoah Juden in Deutschland geraten wird, in der Öffentlichkeit besser keine Kippa zu tragen. Für mich bietet sie auch eine Möglichkeit, mit Menschen ins Gespräch zu kommen.

Was wünschen Sie der Jüdischen Gemeinde in Münster für die Zukunft?

Fehr: Ich wünsche mir von Herzen unter anderem die Fortsetzung der jüdischen Tradition unseres Lebens in seiner wunderbaren Vielfalt, damit unsere Gemeinde eine jüdisch gesicherte Zukunft hat. Ich wünsche mir die Fortsetzung der Offenheit und Kooperationsfreude mit unseren gesellschaftlichen Partnern. Und dass wir uns durch den ansteigenden Antisemitismus nicht wehrlos und sprachlos machen lassen.

Sie sind begeisterter Motorradfahrer, fahren aber seit ein paar Jahren keine Rennen mehr. Wird es dabeibleiben?

Fehr: Mein Kopf sagt: Sei vernünftig in deinem Alter. Mein Bauch sagt: Magst du nicht doch noch mal ein Rennen fahren?

Ich möchte das nicht ausschließen.

Wie werden Sie die Zeit nach Ihrem Abschied vom Gemeindevorstand verbringen?

Fehr: Ich bin weiterhin Mitglied im Vorstand des Landesverbandes jüdischer Gemeinden von Westfalen.

Dann werde ich den neuen Vorstand in unserer Gemeinde vermutlich noch einige Zeit begleiten. Davon abgesehen hoffe ich, künftig mehr Zeit für Sport, Lesen und Reisen zu haben. Und wieder öfter und länger nach Israel fliegen zu können. Und ich hoffe vor allem, dass ich gesund bleiben werde.

Das Interview wurde geführt von Martin Kalitschke,

Redakteur der Westfälischen Nachrichten

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